Wissen vermitteln, Geschichtsbewusstsein schärfen, Gemeinschaft stiften

DIE AKTION „WANDERSCHLÜSSEL” DER LANDESSELBSTVERWALTUNG DER UNGARNDEUTSCHEN STARTETE

Die Vorsitzende der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen schickte eine bemalte Tulpentruhe aus Hartau auf ihre Rundreise durch das Land. Die Kiste birgt die Kopie eines herzförmigen Schlüssels aus Wudersch aus dem 18. Jahrhundert, der ein ganzes Jahr lang symbolhaft zahlreiche imaginäre Tore zur Vergangenheit öffnen wird. Die erste „Tür“ wurde am 18. April im von der LdU getragenen Valeria-Koch-Bildungszentrum in Fünfkirchen geöffnet. In einer beeindruckenden Zeitreise wurden Ereignisse vor drei Jahrhunderten zum Leben erweckt: Kindergarten-, Grund- und Mittelschüler der Bildungseinrichtung führten musikalische Szenen auf, die an die Ansiedlung deutscher Familien vor 300 Jahren erinnerten. Die Initiative „Wanderschlüssel“ wird an 38 Orten – vor allem in ungarndeutschen Bildungseinrichtungen – an die Ereignisse des 18. Jahrhunderts erinnern und damit an alle Deutschen, die teilweise bereits seit einem Jahrtausend in Ungarn leben und das Land mit unschätzbaren kulturellen und wirtschaftlichen Werten bereichert haben.

„An unserem heutigen Projekttag – in der Woche des Wunderbar Festivals – gedenken wir des historischen Prozesses der Ansiedlung der Donauschwaben im ehemaligen Königreich Ungarn“ – mit einem geschichtlichen Überblick leitete Agnes Amrein-Pesti, Direktorin des Valeria-Koch-Bildungszentrums die feierliche Eröffnung der landesweiten Aktion ein. „Am Ende des 17. Jahrhunderts wurde Ungarn von der 150-jährigen Herrschaft der Osman-Türken befreit, das Land wurde Teil des Habsburgerreiches. Die Habsburger wollten als ungarische Könige die in den Kriegen entvölkerten Gebiete neu besiedeln und das Land wiederaufbauen. Als Kaiser des Deutschen Reiches ließen sie deutsche Ansiedler anwerben: Handwerker und Bauernfamilien, die sich im Königreich Ungarn eine neue Existenz aufbauen wollten. Gelockt wurden sie mit Privilegien und der Aussicht, freie Bauern und nicht mehr Leibeigene zu werden. Den rechtlichen Rahmen für die Ansiedlung der Deutschen in Ungarn bildete der Gesetzesartikel CIII, der vom ungarischen Landtag von Pressburg 1722-23 angenommen wurde. Infolge der Ansiedlung in mehreren Wellen wurden die Deutschen im 18. Jahrhundert eine der zahlenmäßig größten Nationalitäten im Vielvölkerstaat Ungarn. Sie bereicherten ihre neue Heimat in den letzten 300 Jahren mit unschätzbaren kulturellen Werten sowie mit modernen wirtschaftlichen und technischen Kenntnissen. Verfolgen wir den Weg der ehemaligen deutschen Kolonisten von Ulm bis nach Fünfkirchen und der Umgebung. Unser Weg symbolisiert die Donau. Machen wir uns mit den fünf Siedlerfamilien auf den Weg. Ich wünsche Ihnen eine gute Zeitreise!“

Es ist bereits zu einem Markenzeichen der Vorsitzenden der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen geworden, ihre öffentlichen Reden durch persönliche Geschichten und Familienerinnerungen zu bereichern. Auch diesmal erzählte Ibolya Hock-Englender nicht nur über die Zielsetzungen der Kampagne, sondern auch über den ältesten Zweig ihres Familienstammbaums, der bis in die deutsche Heimat zurückreicht:

„1726 beschließt der in Schweben (Hessen, im Umkreis von Fulda) geborene, 42 Jahre alte Georg Hack mit seiner Frau, Anna Margaretha Möller und seinen 5 Kindern, Gertrud, Margaretha, Catharina, Johannes und Heinrich dem Ruf zu folgen und in Ungarn ein neues Leben anzufangen. Die Familie kommt noch in diesem Jahr in Saike an. 1741 heiratet Johannes, der Sohn von Georg Hack, schon als ‚Hock‘ die Witwe Eva Stainpohin in Bawaz. Den Urkunden nach ist er in den Jahren 1742 und 1748 Steuerzahler, 1752 steuerfrei und ab diesem Jahr der Richter der Gemeinde. Mit ihm und seinen Kindern, Margaretha, Matthias, Ottilia, Joan Thomas und Conradus fängt die Geschichte der Familie Hock, meiner Familie in Bawaz an. Ob Georg Hack damals mit einer Ulmer Schachtel oder auf dem von den Schülern geschilderten Weg nach Ungarn gekommen ist, kann nicht nachgewiesen werden, ich möchte es aber gerne glauben. Warum? Weil für mich das Schiff, die Reiseroute der Ansiedler ihren Willen verkörpert, eine neue Heimat in einem fremden, anderssprachigen Land aufzubauen, und dabei sich, ihre Herkunft, ihre Sprache und Sitten nicht aufzugeben. Auch meine Vorfahren haben hierzulande all das Glück, das ein neues Zuhause, eine sichere Existenz, Kinderreichtum bieten kann, aber auch all das Leid, das ihnen wegen ihres Deutschseins widerfahren ist, erlebt.“

Vorsitzende Hock-Englender betonte, dass die Wanderschlüssel-Kampagne der LdU als groß angelegte, landesweite Gedenkaktion das Jahr 2023 als rundes Jubiläum sehe, worauf basierend man Wissen vermitteln, das Geschichtsbewusstsein schärfen, Gemeinschaft stiften, das Zusammengehörigkeitsgefühl stärken, ein breites Spektrum von Mitgliedern der ungarndeutschen Gemeinschaft einbeziehen und nicht zuletzt das Ansehen der Ungarndeutschen stärken wolle. Sie unterstich aber auch, dass dieses Gedenkjahr symbolisch für alle Ungarndeutschen stehe – auch für die, die schon seit dem Mittelalter in Ungarn leben und auf anderen Wegen ins Land gekommen sind. „Wir bilden eine Gemeinschaft, und dem wollen wir auch mit dieser Kampagne Ausdruck verleihen“, so Ibolya Hock-Englender.

Die Leitung der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen und die Mitglieder der Arbeitsgruppe „Kommunikation“, die diese Aktion konzipierten und durchführen (Mátyás Amrein, Dr. Kathi Gajdos-Frank, Gregor Gallai, Olivia Schubert, Theresia Rosa Surman, Johann Schuth und Kristina Szeiberling-Pánovics), baten in ihrem Aufruf darum, an jedem Standort ein Dokument in die Kiste zu legen, welches in direktem oder indirektem Zusammenhang mit der Ansiedlung der vor Ort lebenden Deutschen steht. Die „Geschenke“ des Fünfkirchner Bildungszentrums wurden von Valeria Kochs Nichte, Bernadett Kratofil, Lehrerin an der Schule, in die Truhe gelegt: Erstens ein Stammbaum der Familie Koch, der insofern etwas Besonderes ist, weil die jung verstorbene Dichterin ihn einst selbst gezeichnet hat; zweitens ein Gedicht von Valeria Koch in ihrer Originalhandschrift; und drittens der Schlüssel zur ehemaligen Kommode der Namensgeberin der Schule.

Bald wird der Wanderschlüssel weiterziehen: Nach Fünfkirchen wird er im Ungarndeutschen Bildungszentrum Baja gastieren, gefolgt von 36 weiteren Schulen bzw. Vereinen der deutschen Nationalität. Auf der Facebook-Seite der Landesselbstverwaltung der Ungarndeutschen werden wir Sie über die spannende Reise auf dem Laufenden halten.

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